Was ist Waldorfpädagogik?

Möchte jemand ein kleines Kind füttern, das keinen Hunger, aber dafür viel Selbstvertrauen hat, wird es ihm den Löffel aus der Hand schlagen. Fast alle Eltern haben so etwas schon einmal erlebt. Schüler haben dagegen kaum eine Chance, sich zu wehren, wenn man ihnen gewaltsam Wissen einflößt.

Schauen wir auf das Schulsystem, wie es sich über Hunderte von Jahren etabliert hat, finden wir keinen dem Bildungszwang adäquaten Bildungshunger auf Seiten der Schüler. Bildung wird in der modernen Zivilisation wie ein Warenwert in Kategorien des bürgerlichen Besitzstandes gedacht: Sie muss zur Vermeidung gesellschaftlicher Ächtung in einem bestimmten Umfang erworben und besessen werden.

„Was man aus dem Kinde machen soll? Wie man das oder jenes ins Kind hineinbringen soll? – … Auf solche Fragen gibt die Waldorfschul-Pädagogik überhaupt keine Antwort.“ So spricht Rudolf Steiner, für den Waldorfpädagogik bedeutet, Bildung in völlig neuen Kategorien zu denken: „Die Waldorfschul-Pädagogik ist überhaupt kein pädagogisches System, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken. Im Grunde genommen will die Waldorfschul-Pädagogik gar nicht erziehen, sondern aufwecken.“ Wenn ein Pädagoge im Kind keinen ‚Hohlkörper‘ mehr sieht, der in irgend einer Form mit ‚Wissen‘ und ‚Fertigkeiten‘ angefüllt werden muss, sondern vielmehr einen verborgenen Schatz, der seine Geheimnisse enthüllt, sobald man ihm Gelegenheit dazu bietet; wenn er darüber hinaus bereit ist, in der Bildung nichts zu sehen, was dem Schüler einverleibt werden muss, sondern vielmehr etwas, das sich dem Schüler entlocken lässt, sobald dieser die entsprechenden Lebensräume dafür vorfindet; dann hat er sich auf den Weg gemacht, Waldorfpädagoge zu werden – unabhängig davon, ob er an einer Waldorfschule arbeitet oder nicht. Denn dann ist die Schule für ihn „Leben, nicht Wissen; nicht Geschicklichkeit, sondern Kunst […], lebensvolles Tun, weckende Tat.“ [Zitate: „Pädagogischer Jugendkurs“, GA 217, Dornach 1988, S. 36/40]

Steiner hat viele Impulse für eine neue Pädagogik gegeben, aber er wollte nie eine feste und klar umrissene Theorie hinterlassen. Es gibt keine erschöpfende Antwort auf die Frage, was die Waldorfschule als ein Ort der Begegnung und des gemeinsamen Handelns von Lehrern und Schülern eigentlich ist, aber es gibt viele Wege, nach überzeugenden Antworten zu suchen.